EINFACH NUR DURCHFÜHLEN?

Gefühle sind krass – vor allem diejenigen, die von ganz tief unten hochkommen und uns einfach überrollen. Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als tiefe Ohnmacht, das Gefühl von Ausgeliefertsein und große Angst zu erleben – oder sich leer und allein zu fühlen. In solchen Momenten wünschen wir uns nichts sehnlicher als einen Zauberspruch, mit dem sich das schlimme Gefühl einfach auflösen ließe.

Es ist deshalb kein Wunder, dass das Internet und die entsprechenden Abteilungen in Büchereien voll sind mit unzähligen Ideen, wie man genau das erreichen kann. Anleitungen, die sich in Kurzform anhören wie: „Du musst einfach nur …“ – aber muss man wirklich einfach nur? Lass uns das mal am aktuell populärsten Ratschlag anschauen: „Du musst es einfach nur durchfühlen.“

Vom positiven Denken zur Idee vom Durchfühlen

Vorweg können wir vielleicht festhalten: „Es durchfühlen“ ist als Richtung schon viel stimmiger als der frühere Standard-Ratschlag „Du musst einfach nur positiv denken“. Und wir sind froh, dass dieser sehr toxische Ansatz heute nicht mehr so angesehen ist wie vor zehn Jahren. Aber genau betrachtet funktioniert „einfach nur durchfühlen“ leider auch nicht viel besser – zumindest nicht bei tiefgreifenden Gefühlen.

Die Idee, ein Gefühl durchfühlen zu können, damit es sich auflöst, basiert auf der Vorstellung, dass Gefühle eine Art Substanz sind, die im Körper gespeichert ist. Es wird zum Beispiel oft von „im Körper gespeichertem Trauma“ gesprochen – als ob es sich dabei um Gefühle handeln würde, die irgendwo „feststecken“.Aber: Der Körper speichert keine Gefühle oder Erlebnisse – er behält lediglich die Spuren, die ein überwältigendes Ereignis hinterlassen hat. Diese zeigen sich z. B. in Anspannung, Übererregung oder Erschöpfung.

Warum „durchfühlen“ nicht reicht – und was stattdessen hilft

Und dann gibt es noch ein anderes, tieferes Problem: Der Versuch, Gefühle einfach durchzufühlen, um sie aufzulösen, bringt uns nicht wirklich in Kontakt. Mit „leichteren“ Gefühlen im Alltag kann es vorkommen, dass man zufällig in einen echten Kontakt kommt, wenn man versucht sie durchzufühlen. Aber bei tiefen, schwierigen Gefühlen führt der Ansatz “durchfühlen um es aufzulösen” fast immer in die Sackgasse.

„Einfach nur durchfühlen“ könnte man mit „Augen zu und durch“ übersetzen. Doch genau das ist bei Trauma-Gefühlen nicht hilfreich. Denn hier geht es nicht darum, möglichst intensiv vom Gefühl überflutet zu werden, sondern darum, ruhig zu werden im Kontakt mit dem Gefühl.

Schon allein das Ziel, das Gefühl „loswerden“ zu wollen, hindert daran, den Kontakt wirklich zuzulassen. Und Ruhe kann erst aufkommen, wenn wir die Anwesenheit des Gefühls wirklich annehmen.

Das Ziel ist also nicht das Auflösen, sondern das Daseinlassen des Gefühls. Je mehr wir bereit und fähig sind, ein Gefühl da sein zu lassen, desto klarer werden wir – und oft können wir dann auch besser zuordnen und verstehen, welche ursprünglichen Ereignisse damit verbunden sind.

Echte Integration statt schneller Lösung

So entsteht Empathie mit uns selbst.Wir werden zu den verletzten Wesen und den Raumhalter*innen zugleich. Wir geben uns die Erlaubnis, so zu fühlen – ohne die Erwartung, dass sich das auflösen muss. Wir sind für uns da, akzeptieren das Gefühl – und die Geschichte dazu. Und das ist: echte Integration.

Sie funktioniert nicht nach dem Prinzip „du musst einfach nur …“. Denn dieser Weg von echtem Kontakt und tiefer Selbstakzeptanz braucht Zeit. Kein Zauberspruch, sondern geduldige Zuwendung führt zum Ziel. Und je länger man diesen Weg geht, desto weniger drängend wird das Bedürfnis, ein Ziel erreichen zu müssen.

Man entdeckt Tiefe im Weg an und für sich – und beginnt zu verstehen: Man muss nicht erst irgendwo angekommen sein, um glücklich zu sein. Denn das größte Glück ist es, sich selbst – und das Leben – so annehmen zu können, wie es ist.

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