WENN DIE WELT AUS DEN FUGEN GERÄT
Wir leben in einer Zeit wachsender Polarisierung. Meinungen werden extremer, und Ansichten werden wieder laut, von denen wir dachten, wir hätten sie längst überwunden. Es fällt vielen von uns schwer, die Richtung zu akzeptieren, in die sich die Welt gerade bewegt. Gefühle wie Verlust, Ohnmacht, Wut und Einsamkeit tauchen auf – und das ist nur allzu verständlich.
Wie soll man mit Meinungen umgehen, die sich so falsch oder schmerzhaft anfühlen, dass man am liebsten wegschauen möchte? Und wie reagiert man auf eine Welt, die scheinbar beschlossen hat, alte Fehler zu wiederholen, statt gemeinsam weiterzugehen?
Kein Rückfall sondern Zyklen
Zunächst ist es hilfreich, das grössere Bild zu sehen. Die Menschheitsgeschichte ist voller Rückschläge – und trotzdem ging die Entwicklung im Ganzen weiter. Nicht gradlinig, sondern in Zyklen. Dass viele heutige Strömungen Erinnerungen an die Vergangenheit wachrufen, ist kein Zufall. Es zeigt, wie unvollständig manche kollektiven Wunden und Traumata verarbeitet wurden – sei es der Nationalsozialismus, Kolonialgeschichte, Rassismus oder patriarchale Strukturen.
Auch in der persönlichen Heilung erleben wir, dass Themen in Wellen wiederkehren. Was wir für erledigt hielten, zeigt sich plötzlich in neuer Form – nicht, weil wir versagt haben, sondern weil noch etwas Tieferes gesehen und integriert werden will. Im Kollektiv funktioniert das ganz ähnlich: Wenn sich heute gesellschaftliche Spannungen, Ausgrenzung oder Gewalt wiederholen, sind das keine Rückfälle ins Gestern, sondern Ausdruck offener Prozesse, durch die wir noch nicht zu Ende gegangen sind.
Das zu erkennen, bedeutet nicht, alles zu entschuldigen. Aber es schafft eine tiefere Perspektive. Wir stehen heute nicht mehr am selben Punkt wie vor achtzig Jahren. Wir haben andere Ressourcen, andere Zugänge, andere Netzwerke - und wir sind auch im Kollektiv ein gutes Stück gewachsen. Wir sind in der Lage, bewusster zu wählen, wie wir mit dem umgehen, was sich zeigt.
Und doch ist es herausfordernd. Denn uns wirklich berühren zu lassen von dem, was geschieht – im Außen wie im Innen – erfordert Mut. Der erste Impuls ist oft Rückzug oder Abwehr. Doch genau hier liegt das Potenzial für Veränderung: im Dableiben, im Spüren, im bewussten Umgang mit den Gefühlen, die in uns getriggert werden.
Innerlich und äusserlich aktiv
Was aber tun mit destruktiven oder menschenverachtenden Ansichten, die ausgrenzen, verletzen oder spalten? Wichtig ist, zu verstehen: Solche Haltungen haben selten eine logische Grundlage. Sie entspringen meist tiefer Angst, Isolation oder dem Wunsch nach Kontrolle. Oft ist echte Diskussion kaum möglich – nicht, weil die Menschen „dumm“ sind, sondern weil der Kontakt zu sich selbst und zu anderen fehlt.
Soll man also schweigen? Nein. Es ist wichtig, sichtbar zu bleiben. Es gibt viele Wege, marginalisierten Gruppen Gehör zu verschaffen – in Gesprächen, durch klare Positionierung, durch Unterstützung von Projekten, die aufklären und stärken. Besonders wirkungsvoll wird das, wenn es aus einem echten Kontakt zu sich selbst kommt. Wer sich seinen eigenen Ängsten und Gefühlen stellt, kann mit mehr Klarheit, Mitgefühl und Kraft in der Welt wirken.
Das heisst nicht, dass jede*r von uns politisch aktiv sein muss. Alleine schon die Entscheidung, sich mit den eigenen inneren Prozessen auseinanderzusetzen, hat eine Wirkung über uns hinaus. Persönliche innere Arbeit trägt zur Veränderung im Aussen bei – nicht als Ersatz für das Handeln im Aussen, sondern als seine tiefe Grundlage.
Veränderung beginnt in dir
Vielleicht denkst du, du bist zu klein, um etwas zu bewegen. Doch Geschichte wurde nie nur von den Mächtigen gemacht, sondern auch von den Vielen, die in ihrem Umfeld Licht gehalten, Klarheit gesprochen und Menschlichkeit gelebt haben.
Der vielleicht wichtigste Punkt ist: Nachhaltige Veränderung beginnt dort, wo wir uns berühren lassen – nicht nur kognitiv, sondern emotional. Das Kollektiv sind wir alle. Wenn du bereit bist, dich deinen eigenen Themen, Triggern und Traumata zuzuwenden, bist du Teil der Lösung.
Es ist nicht die Zeit, in Hoffnungslosigkeit zu versinken. Es ist die Zeit, sich bewusst auf die Prozesse einzulassen, die geschehen möchten. Denn mit deiner eigenen Veränderung, wirst du Teil der Veränderung der Welt.