LOSLASSEN STATT VERARBEITEN?
Wäre es nicht eigentlich viel einfacher, die Vergangenheit einfach loszulassen, statt sich in langwierigen Prozessen mit ihr auseinanderzusetzen? Das Leben findet doch im Hier und Jetzt statt. Könnte man sich da nicht einfach dafür entscheiden, nur noch im Augenblick zu leben – und alle Probleme wären gelöst?
Tatsächlich gibt es verschiedene Denkrichtungen und spirituelle Praktiken, die genau darauf abzielen. In einer großen spirituellen Erleuchtungsbewegung hoffen Millionen von Menschen, genau diesen Zustand zu erreichen: ein Leben im Augenblick – frei von den Belastungen der Vergangenheit. Um dorthin zu gelangen, soll man zB. vom Ego loslassen, sich nicht mehr in Gedanken verstricken (oder ganz aufhören zu denken) und sich nicht mehr mit dem Irdischen und Vergänglichen identifizieren.
Die Idee dahinter: Verletzungen einfach loslassen, anstatt sie zu verarbeiten. Wenn es kein „Ich“ mehr gibt, das Verletzungen persönlich nehmen kann, dann gibt es auch keine Verletzungen mehr. Problem gelöst.
Oder etwa doch nicht?
In all den Jahren, in denen wir Menschen begleiten, ist uns eine Sache ganz deutlich geworden: Wer keinen Kontakt zu seinen Verletzungen aufnimmt, bleibt stehen. Egal ob man klassisch verdrängt und sich schlicht nicht für Aufarbeitung interessiert – weil es ja auch irgendwie ohne geht – oder ob man spirituell verdrängt und versucht, sich in den Moment zu flüchten: Solange man dem Schmerz nicht begegnet, findet keine Entwicklung statt. Woran liegt das?
Verletzungen sind keine Fehler. Sie sind eine Einladung zu wachsen! Jeder Schmerz, jede Trauer, jedes Trauma, das wir in uns tragen, birgt das Potenzial zur Entwicklung in sich. Der Kontakt mit ihnen verändert uns. Wir werden ruhiger, vollständiger, weiser. Wir beginnen, das Leben – und uns selbst – neu zu verstehen.
Und je mehr wir uns diesem Verstehen öffnen, desto mehr erkennen wir das Leben in seiner Ganzheit – und können uns vertrauensvoll hineingeben.
Natürlich ist es extrem schwer, den Kontakt mit schwierigen Gefühlen und Erinnerungen zuzulassen. Aber im Widerstand zu bleiben, bedeutet auch immer, im Widerstand gegen einen Teil des Lebens zu sein. Der Versuch, Dinge einfach nicht an sich heranzulassen, statt ihnen zu begegnen und sie zu verarbeiten, bedeutet letztlich, einen Teil von sich selbst – und des Lebens – auszuschließen.
Und was passiert, wenn man den Kontakt zulässt?
Nur das Zulassen von Kontakt führt zu echtem Loslassen. Loslassen bedeutet nämlich nicht, sich von etwas zu distanzieren. Es bedeutet, so tief in den Frieden mit etwas zu kommen, dass man es da sein lassen kann – ohne es kontrollieren oder festhalten zu müssen. Und wirklich in Frieden mit etwas zu kommen, gelingt nur, wenn man sich davon berühren lässt, ruhig damit wird und erlebt, dass es Teil von einem selbst sein darf.
Ein Leben im Augenblick, frei von den Belastungen der Vergangenheit ist tatsächlich möglich - aber nicht durch Distanz zu allem Schmerz, sondern durch Kontakt und Verarbeitung.
Die Frage ist also nicht, ob man „Loslassen statt Verarbeiten“ will – sondern, ob man verdrängen und im Stillstand bleiben oder durch Verarbeiten wirklich loslassen möchte.
Loslassen heißt zulassen.
Zulassen heißt ganz werden.
Und ganz werden – ganz werden ist das größte Glück der Welt.