WENN DU (ZU) VIEL FÜHLST
Nicht alle Menschen fühlen gleich stark. Vielen fällt es leicht, auszublenden, was sie nicht spüren oder sehen möchten, während andere fast ungefiltert alles bewusst miterleben.
Das gilt einerseits für eher oberflächliche Dinge wie den Geräuschpegel in der Umgebung, den starken Duft eines Parfums oder die Hektik der Menschen rundherum- aber auch für tiefere Themen wie das Leid in der Welt.
Es ist eine ganz andere Erfahrung, in hohem Maß sensitiv zu sein - als unangenehmes ausfiltern zu können und so zu “entscheiden” was bis ins Bewusstsein dringen soll und darf. Viel zu fühlen kann weitreichende Folgen haben, die oft lange unerkannt bleiben und missverstanden werden.
Da wir beide stark ausgeprägt wahrnehmen und erfahrungsgemäß wissen, dass viele unserer Leser*innen ebenfalls eine offene Wahrnehmung haben, beziehen wir uns im Folgenden mit „wir“ und „uns“ auf Menschen mit hoher Sensitivität und differenzierter Wahrnehmung.
Von klein an anders
In einer Leistungsgesellschaft wie der unseren fallen Menschen mit hoher Sensitivität meist durch eine Sache auf: Wir „funktionieren“ oft nicht so wie die anderen.
Schon früh spüren viele von uns, dass sie anders sind und erleben das leider oft nicht als etwas Positives. Wir sind schneller überfordert, brauchen in gewissen Dingen mehr Unterstützung, stellen viele Fragen, haben eine “blühende Fantasie”, fordern unser Gegenüber, sind mal zu laut, dann wieder zu still. Wir brauchen mehr Pausen, sind langsamer oder zu schnell, mäandern durch die Welt, statt den vorgegebenen Pfaden zu folgen- und das fällt auf.
Manchmal ganz offen, oft aber auch unterschwellig, bekommen wir das Feedback, nicht richtig zu sein. Wir fühlen uns von anderen nicht verstanden und haben gleichzeitig auch Mühe, sie zu verstehen. Vieles, was uns beschäftigt, scheint andere nicht zu interessieren und was für uns logisch ist, wirkt auf andere rätselhaft.
Oft kommt es uns vor, als wären wir die Einzigen, die so empfinden. Wir stehen am Rand und schaffen es nicht, „in die Mitte“ zu kommen. Die Strategien, die wir entwickeln, um damit umzugehen, sind ganz unterschiedlich.
Gängige Strategien
Einige von uns werden trotzig- es ist einfacher, niemanden zu brauchen, als sich ungeliebt zu fühlen. Andere werden besonders brav, weil wir merken, dass wir so Anerkennung erhalten. Wieder andere ziehen sich zurück- in eine eigene kleine Welt, die, wenn wir tief genug eintauchen, plötzlich ganz groß ist und uns das Außen vergessen lässt.
Manche richten ihre ganze Aufmerksamkeit auf andere- sie passen sich perfekt an und übernehmen die Rolle, die gebraucht wird, um dazuzugehören.
Natürlich entscheidet sich nicht jede*r von uns bewusst für eine dieser Strategien. Oft wechseln wir je nach Situation, entwickeln aber meist eine bevorzugte Art, mit dem Gefühl des Andersseins umzugehen.
Eine schmerzhafte Lücke
Was all diese Strategien verbindet: Sie lassen uns wenig Raum, ein kohärentes Selbstgefühl in echter, authentischer sozialer Interaktion zu entwickeln. Wir finden Rollen in der Gesellschaft aber oft keinen Ausdruck unseres Innersten. Und das wird zu einer schmerzhaften Lücke.
Viele stark fühlende Menschen wachsen so zu sehr selbstkritischen Persönlichkeiten heran, begleitet von einer lebenslangen Suche nach etwas, das sich zutiefst wesentlich anfühlt. Das Leben wirkt nie ganz erfüllend.
Hinzu kommt, dass unsere frühen Überlebensstrategien mit der Zeit immer erschöpfender werden. Die ständige Anpassung kostet Kraft, oft auch körperlich. Wir fühlen uns ausgelaugt und verstehen nicht, warum wir nicht einfach, wie scheinbar alle anderen, funktionieren.
Kommt dir das bekannt vor?
Wichtige Schritte
Für stark wahrnehmende Menschen ist es zentral, sich zunächst einmal selbst zu erkennen- als feinfühlige, viel wahrnehmende Wesen. Erst dann können wir langsam alte Missverständnisse über uns selbst hinter uns lassen. Das Gefühl, falsch zu sein, weicht immer mehr einem gesunden Stolz, mit hoher Feinfühligkeit durch die Welt zu gehen und wir beginnen, unser Leben entsprechend zu gestalten.
Das beginnt ganz praktisch: Wir planen zB. bewusste Rückzugszeiten ein, statt uns ständig zu überfordern. Viele Fähigkeiten, die mit intensiver Wahrnehmung einhergehen, entfalten sich erst, wenn wir uns die nötige Zeit geben, um Eindrücke zu verarbeiten und einzuordnen.
Für viele von uns ist es hilfreich, einen Teil unserer Freizeit für stille Momente in der Natur oder mit uns selbst zu reservieren damit es uns langfristig gut geht.
Aus dem Hamsterrad
Anfangs ist das gar nicht so einfach. Wenn du aus dem Hamsterrad der ständigen Anpassung aussteigst, wird es oft erst mal laut in dir. Es kann beängstigend sein, dem inneren Chaos zu begegnen- dem Lärm, der sich über Jahre angesammelt hat.
Dieser Lärm fühlt sich manchmal an wie eine Turbine, die alles aufwühlt. Doch mit dem bewussten Schritt in die Stille entziehst du ihr nach und nach den Kraftstoff und langsam kommt sie zum Stillstand.
Dann beginnst du, dich selbst mehr zu spüren. Und das ist nicht nur angenehm, denn viele alte Verletzungen liegen noch ungeordnet in dir. Doch du wirst feststellen: Genau da berührt dich das Leben auf eine Weise, die tief guttut- auch wenn es manchmal schmerzt.
Und mit der Zeit findest du etwas in dir, das du lange im Außen gesucht hast: Geborgenheit. Was du durch Anpassung nie gefunden hast, beginnt sich dir nun in deinem Inneren zu zeigen, ganz unabhängig von anderen.
Verborgene Schätze
Als stark fühlender Mensch bist du groß geworden in einer Welt, die dir oft vermittelt hat, falsch zu sein. Doch je mehr du dich selbst erkennst und deine Eigenheiten liebevoll erforschst, desto deutlicher wird: Du trägst einen großen Schatz in dir.
Einerseits einen Schatz für dich selbst- denn es gibt kaum etwas Schöneres, als viel zu fühlen, wenn du gelernt hast, dich gut darin zu halten. Andererseits einen Schatz für die Welt: denn die Art, wie du wahrnimmst, ist heute vielleicht wichtiger denn je. Dass du deine Augen nicht vor dem verschließen kannst, was andere nicht sehen wollen, ist keine Schwäche. Es ist deine Stärke.
Und je mehr du dich aus der Erschöpfung der ständigen Anpassung löst und beginnst, ganz bei dir selbst anzukommen, desto mehr wirst du Teil der Veränderung, nach der diese Welt so laut ruft.
Wir zählen auf dich.